Der Samurai und der Schneider – das Ende der Routine

Eines Morgens in einem namenlosen Dorf im alten Japan. Das Leben fließt ohne nennenswerte Regung wie an jedem anderen Tag. Ein geschäftiger Schneider ist wie viele andere Menschen auf dem Weg in die Stadt, er benötigt Stoffe für seinen neuesten Auftrag. Im Gedränge eines Kontrollpunktes an der Stadtgrenze berührt er unbedacht das Schwert eines Samurais. Das gilt zu dieser Zeit als schweres Vergehen, und der Samurai dürfte ihn ungestraft auf der Stelle töten. Der Schneider fällt auf die Knie und bittet um Verschonung. Der Samurai aber gebietet ihm, am nächsten Morgen auf einer bestimmten Waldlichtung vor der Stadt zu erscheinen, um seine Strafe zu erhalten, und sollte er nicht erscheinen, so würden er und seine Familie dafür büßen.

Der arme Mann ist außer sich vor Angst, er hat, außer als Heranwachsender mit einem Bokken (Holzübungsschwert), keinerlei Erfahrung im Schwertkampf und sieht sein sicheres Ende nahen. In dieser Nacht macht der zum Tode Verurteilte kein Auge zu, er schmiedet alle möglichen Pläne, wie er seinem Schicksal entkommen könne, findet aber keinen Ausweg.

Pünktlich im Morgengrauen betreten die beiden die Waldlichtung, der Schneider hat seine beste Kleidung mitgebracht und das alte, über Generationen in Ehren gehaltene Schwert seiner Familie. Der Samurai wartet bereits ungeduldig und fordert ihn auf, in Stellung zu gehen. Doch der Schneider bittet ihn um etwas Geduld und beginnt sich umzukleiden. Mit der allergrößten Sorgfalt und Hingabe legt er, wie er es schon unzählige Male zuvor getan hat, seine von ihm selbst liebevoll gefertigten Kleider an. Ganz in diesem Tun aufgelöst, jede Falte und den korrekten Sitz prüfend, arrangiert er alles zur höchsten Perfektion. Schließlich ist er soweit und als er dem Samurai entgegen tritt, ist sein Geist völlig gelassen.

Der Samurai hat aufmerksam das Tun seines Gegenübers verfolgt. Er hat die Hingabe und Kunstfertigkeit des Ankleidens verfolgt und sieht nun einen furchtlosen, fast freundschaftlichen Blick auf sich gerichtet. Da verbeugt er sich und sagt: “Verzeiht, dass ich Euch nicht erkannt habe, Ihr müsst wahrlich ein Meister der Kampfkunst sein. Selbstverständlich ist all das nur ein Versehen, das keiner Genugtuung bedarf. Ich bitte Euch, meine Entschuldigung anzunehmen.”

Der Schneider, immer noch in höchster Präsenz und ohne erkennbare innere Reaktion verneigt sich ebenfalls und verlässt wortlos den Ort.

Diese Geschichte und die folgenden Gedanken sind all denen gewidmet, die sich von Zeit zu Zeit für Gefangene ihrer Gewohnheiten, Pflichten und Routine halten.

 

  1. Routine reduziert das Denken – viel Routine, da bleibt viel Zeit für die wichtigen Dinge im Leben. Wie dumm, dass es irgendwann langweilig wird. Immer das Gleiche auf die gleiche Weise tun, immer wieder dieselben Dialoge führen, um endlich! eine Lösung zu finden, immer wieder die gleichen Filme… .
  1. Der Mensch will sich entwickeln, deswegen braucht es etwas Neues, Veränderung hindert uns am Rosten, so werden manche Menschen abhängig von Veränderungen. Wir brauchen Neuigkeiten, das andere kennen wir schon.
  1. Routine entwickelt sich oft in Ritualen. Routine festigt Strukturen und Struktur gibt Sicherheit. Offenbar ist es das, was wir so mögen, unsere Achillesferse.
  1. ZEN-Gärten haben mich immer schon fasziniert. Ihre Muster, die sich an den harmonischen Prinzipien der Natur und des Fließens orientieren. Die eigentliche Aufgabe ist, jeden Tag aufs Neue eine Einmaligkeit zu kreieren, auch wenn es für den Laien immer ähnlich aussehen mag.
  1. Auch für BeraterInnen und Coaches ist Routine ein Thema, lebt doch die Qualität einer Beratung von der unmittelbaren Wahrnehmung und möglichst großen Offenheit zwischen zwei Menschen. Das Wunder geschieht, wenn alles wieder neu und rätselhaft ist, denn Heilung und Klarheit wachsen auf kindlichem Grund.
  1. Das Leben ist nur neu, wenn es fließt – in der Routine denkt man nur, es flösse. Würde sich ein Gebirgsbach seines gewohnten Bettes entledigen wollen und sich über die vielen kantigen Steine darin beschweren, oder dass er immer wieder dasselbe Tal hinab stürzt? Nein. Weil ein Fluss aus unzähligen Tropfen, aus Augenblicken höchster Präsenz besteht. Eine Milliarde mal Jetztbewusstsein!
  1. Welche Alternative gibt es zur Routine? Aggression ist die Gegenspielerin zur Routine, sie ist ungebändigte Lebenskraft. Aggression wirkt nur dann befreiend, wenn wir uns nicht gleichzeitig an einen Gegner oder eine Situation binden. Anhaftung macht uns zu Gefangenen unserer Lebenskraft, die dann in engen Teufelskreisen zirkuliert. Wenn eine Beziehung eingeschlafen ist, hilft vielleicht ein reinigendes Gewitter. Kann sein, dass es dann vorbei ist. Ende der Routine. Was also geschieht, wenn wir, statt dem gewohnten Energiespar-Prozedere zu folgen, den persönlichen Einsatz erhöhen? Ja was?

 

Zusammengefasst:

Wenn Sie die alltägliche Routine und ein Leben voller Verpflichtungen schmerzen, dann erinnern Sie sich des Schneiders

  1. Treffen Sie die Entscheidung, sich JETZT darum zu kümmern
  2. erhöhen Sie die Achtsamkeit auf alle Sinne (und vergessen Sie Ihren Körper nicht)
  3. spüren Sie, dass Sie geatmet werden
  4. finden Sie die Geschwindigkeit, in der Sie sich auch handelnd vollständig wahrnehmen
  5. tun Sie das Gewohnte, als wäre es ein Teil von Ihnen
  6. erfassen Sie jede Geste, schmecken Sie jedes Wort, lauschen Sie jedem Tropfen im Fluss Ihres Lebens.

Die Lösung liegt immer in einer qualitativen Veränderung des Blickwinkels und die ist immer eine Frage der bereit gestellten Energie (Achtsamkeit).

Routine hält uns gefangen – oder ist Ausgangspunkt unserer Befreiung. Sie ist nur ein Aggregatzustand unseres Bewusstseins, und das ist die gute Nachricht!

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