Der Geschichtensammler

Es war einmal ein Mann, Frank von Frei genannt, der Geschichten sammelte – das ist schon eine Weile her. Er hegte einen großen Schatz an Geschichten aus seinem Leben, von den Orten, die er gesehen hatte und den Menschen, denen er dort begegnet war. Manche Geschichten machten ihm Freude, sobald er daran dachte, andere machten ihn traurig oder gar wütend. Der Geschichtensammler hatte auch eine Frau, mit der ihn viele schöne Geschichten verbanden, und sie planten ihre Zukunft, was sich jetzt schon sehr schön anfühlte.

Frank von Frei sammelte für sein Leben gerne Geschichten. Selbst wenn er einkaufen ging und sich zum Beispiel ein Kilo Elstar-Äpfel abwog, dann hätte er gerne mehr über die Geschichte eines solchen Apfels gewusst, über das Land, aus dem er gekommen, über den Baum, an dem er gewachsen war, wer den Baum gepflanzt, welche Biene die Blüte bestäubt und was sie dabei gefühlt hatte. Und so hatte unser Geschichtensammler auch noch eine Sammlung von Geschichten, die er gerne gekannt hätte.

Mit seinen Mitmenschen tauschte er sich gerne über deren Geschichten aus, was sie gesehen, gehört und darüber gedacht hatten. Überhaupt war das Meiste gar nicht wirklich passiert, sondern nur gedacht. Das machte aber nichts, solange es irgendwie Sinn ergab. Unsinnige Geschichten mochte Frank nicht, denn er war ein ordentlicher Mensch.

Wenn Frank von Frei spazieren ging und einem wildfremden Menschen begegnete, dann begann sich in ihm sofort beim ersten Anblick eine Geschichte über diesen Menschen zu formen, sodass dieser schwupp! Teil von Franks Sammlung wurde, sauber einsortiert, wie es sich´s gehört.

Seine Liebe zu Geschichten hatte Frank zu seinem Beruf gemacht. Er verdiente seinen Lebensunterhalt damit, dass er sich die Geschichten anderer Menschen anhörte, ihre Ängste und Probleme und all die Gedanken, die sie sich schon darüber gemacht hatten. Er war ein guter Zuhörer und ab und zu fügte er etwas ein, was er aus einer seiner eigenen Geschichten gelernt hatte und das half dem anderen, seinem Leben eine neue Richtung zu geben oder zumindest anders über seine Vergangenheit zu denken.

In seiner Freizeit las der Geschichtensammler gerne Bücher mit Geschichten von Menschen, die ein besonderes Talent dafür hatten, diese in besonders wohlklingende oder vernünftige Worte zu fassen. Wenn er zu müde zum Lesen war, trank er Wein und schaute sich Geschichten im Fernsehen an. Auch Informationssendungen interessierten ihn sehr, da berichteten wichtige oder gut informierte Menschen davon, was sie erlebt hatten oder gerade erlebten und was sie darüber dachten. Manches davon fügte Frank von Frei seinem Fundus hinzu, aber das Meiste vergaß er gleich wieder.

Eines Tages war unser Freund im Kino, eine weitere Lustbarkeit für Menschen wie ihn. Mitten im Vorspann riss der Film. Die Zuschauer stöhnten auf und waren genervt, weil die Geschichte der Produkte, die beworben wurde, unterbrochen worden war. Als nach 5 Minuten immer noch nichts geschah, fasste sich der Geschichtensammler ein Herz und verließ den Saal. Er suchte den Vorführerraum und fand in unverschlossen.

Als er eintrat, übrigens das erste Mal in seinem Leben – was für eine tolle Geschichte – sah er, dass der Filmvorführer eingeschlafen war und gar nicht bemerkt hatte, dass der Film gerissen war. Mittlerweile hatte sich die halbe Filmspule abgerollt und einen Riesensalat auf dem Boden veranstaltet.

Frank griff mit beiden Händen in dieses Wirrwarr, was ja eigentlich eine Geschichte auf der Leinwand hätte werden sollen. Er sah, dass es eine Aneinanderreihung einzelner Bilder war und verstand, dass die Geschichte, für die er eben noch Eintritt bezahlt hatte, reine Einbildung geworden wäre und eigentlich eine Abfolge von Einzelaufnahmen war.

Da verließ Frank von Frei, der begeisterte Geschichtensammler, das Kino und ging nach Hause. Er setzte sich an seinen Küchentisch und starrte vor sich hin. Das Erlebte ließ ihn nicht los. Was wäre … wenn … das ganze Leben eine Aneinanderreihung einzelner 3D-Bilder wäre, die er nur deshalb nicht einzeln sah, weil der Geist des Menschen zu langsam und die Geschwindigkeit des Lebens zu hoch wäre? Dieser Gedanke beunruhigte und faszinierte ihn zugleich. Und zum ersten Mal dachte er nicht: „Was für eine Geschichte!“, denn er ahnte, dass es mehr als das war.

Ab diesem Tage begann er jeden Tag eine gewisse Zeit still an seinem Küchentisch zu sitzen und sich dabei zuzusehen, wie die Geschichten seines Lebens und Erlebens vor seinem geistigen Auge abliefen. Er tat nichts und er bewertete nichts, er verzichtete sogar aufs Einsortieren. Er schaute nur zu.

Die Jahre gingen ins Land und langsam, peu á peu begann sich hinter den Geschichten eine andere Welt zu zeigen. Keine Welt der Geschichten, sondern eine Welt, aus der Geschichten entstehen! Mit der Zeit, wenn er wirklich ganz still und bei sich war, konnte der Geschichtensammler sogar einzelne Bilder ausmachen, wie sie pixelig aus dem Nichts auftauchten und immer mehr Gestalt annahmen, während die Wirklichkeit, die gerade noch wirklich gewesen war, verschwand.

Da begriff Frank von Frei, dass es keine Zeit gibt, wie er es immer gedacht hatte. Er begriff, dass die Welt und auch er selbst ein ständiges Entstehen und Vergehen in einem einzigen Augenblick, dem Jetzt ist. Da war er froh. Das erste Mal so richtig froh.

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